Wer ist Mr Satoshi

Jonathan Lee, ist ein Schriftsteller der mit Worten jongliert. Mit Worten seine Bilder so nahe bringt,

umschreibt, umschmeichelt. Wortkombinationen gebraucht, die ich so noch nie gelesen habe. Er ist 1981 in Surrey geboren, studierte englische Literatur, lebte in Südamerika und arbeitete in in einer Anwaltskanzlei in London. “Wer ist Mr. Satoshi” schrieb er, nachdem er aus Tokio, wohin er versetzt wurde, wieder in England war. In New York ist sein neues zu Hause…

Seine Texte werden in namhaften Zeitschriften abgedruckt und sein neuster Roman wird inzwischen schon verfilmt. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, wie man die Sätze, die dieser Autor zu Papier bringt, passend verfilmen kann. 
In „Wer ist Mr Satoshi“, erlebt Jonathan Lees Hauptdarsteller, Robert Fossick, wie seine Mutter auf der Terrasse des Altenheim, wo sie wegen ihrer Demenz von Robert untergebracht wurde, verstirbt. Unfähig sich zu rühren, beobachtet er den Sturz und später die Aktionen der Sanitäter. Kurz bevor die Mutter die Terrasse betreten hatte, hielt sie ihrem Sohn ein Paket entgegen und erklärte Robert, dass dieses für einen gewissen Mr Satoshi sei. Robert hat seit einem tragischen Unfall seiner Frau ausgeprägte Panikattacken und kann seinem Beruf als Fotograf nicht mehr nachgehen. Er verbringt die meiste Zeit in seiner Wohnung, lebt beziehungsweise überlebt nur mit Hilfe von Tabletten. Nun ist er gezwungen sich mit dem Paket auf die Suche nach Mr Satoshi zu machen, da auch noch sein Agent darauf drängt, mal wieder Bilder seines Schützling zu veröffentlichen. Ausgerechnet nach Tokio, in eine der quirligsten Städte, wird er reisen und durch eine junge Japanerin die Welt neu entdecken. 
Wie gesagt, Lee schreibt in einem unglaublichen Stil. Die Umschreibungen, die er benutzt, sind so bildhaft, so wunderbar. Die Sätze faszinieren und machen unglaublichen Spaß zu lesen. Jung, frech, überdeutlich, lesen wir die Gedanken des Hauptdarstellers und sind mit ihm in seinen Drogenträumen und in seinen Panikattacken unterwegs. Lee sieht die Welt mit einem besonderen Blick, lässt uns mit seiner bildhaften Sprache teilhaben. Die Beobachtungen des Protagonisten bringen uns die Demenz der Mutter näher. Woher die Ängste, die Robert hat stammen, wird auch im Laufe der Geschichte erklärt. Auf eine Art, die Lee in meinen Augen, als besonderen Schriftsteller auszeichnet.

Ein Absatz von Seite 104:

“Kein Buch oder Film hatte mich auf das millionenfarbige Adernetz der Stadt vorbereitet. Seine Lichter gleißten unglaublich hell, dimmten sich nur herunter, wenn das Taxi in einen Tunnel gesaugt wurde. Wenn wir dann Sekunden später wieder auftauchten, fühlte ich mich wie ein soeben ausgetriebenes Neugeborenes, unfähig, die Welt außerhalb des Mutterleibs aufzunehmen. Fluoreszenz ergoss sich von Straßenschildern mit fremdartigen Aufschriften, füllte Ladeneingänge und sickerte in enge Seitengassen.”

Das wird bestimmt nicht das letzte Buch sein, das ich von Jonathan Lee lesen werde. Einige haben ihn auch mit Haruki Murakami gleichgestellt. Seine Bücher hochgelobt.

Paperback, Klappenbroschur,
320 Seiten
ISBN: 978-3-442-75386-4
Verlag: btb

Serenade

Eine große Liebe zwischen Mutter und Sohn!… 
Inniger kann eine Liebe nicht sein. Stoisch erträgt Bennie, die Anrufe der Mutter, die lebenslustig ihr Leben als Witwe meistert. Steht ihr Rede und Antwort, läßt sich nicht aus der Ruhe bringen, egal in welcher Situation oder Gelegenheit sie auch anrufen mag. Dann erfährt der Sohn, dass seine Mutter schwer krank ist: Anneken hat unheilbaren Krebs. Der Sohn und erfolgloser Komponist, möchte nicht, dass seine Mutter ihre Diagnose erfährt. Diese entwickelt einen besonderen Spass am Leben, verliebt sich neu und verschwindet Zeitweise in fremden Städten. Bennie wird angerufen und vor vollendete Tatsachen gestellt, wo sie sich aufhält. Aber eines Tages, ist die Mutter verschwunden, meldet sich nicht. Der Freund der Mutter macht sich große Sorgen, obwohl auch er nicht die Diagnose kennt. So macht sich der Sohn, mit dem Liebhaber, auf die Suche nach der Mutter. Bennie erfährt auf dieser Suche Dinge über seine Mutter, die er nie hören wollte, auch nie vermutet hätte.
Leon de Winter schreibt wundervoll leicht und unterhaltsam. Mit tiefgründigem Witz. Die Geschichte führt uns in die Nähe des Kriegsgebietes (1994) nach Split. Sarajevo liegt unter Beschuss und die Mutter möchte so dicht wie möglich an die Kampflinie. Dabei kommen Kriegstraumata der Mutter aus dem zweiten Weltkrieg zum Vorschein und werden sanft abgehandelt. Die Liebe des Sohnes, zu seiner Mutter, ist deutlich spürbar. 
Am Ende hatte ich Tränen in den Augen. Ein wundervolles Buch, das ich nur empfehlen kann.
Die Widmung auf der ersten Seite:
“Zum Gedenken an meine Mutter
Annie de Winter-Zeldenrust
1910 – 1994”

von Leon de Winter
Leon de Winter, 1956 Sohn armer niederländischer Juden geboren, begann schon als Jugendlicher zu schreiben. Er veröffentlichte mit 24 Jahren seinen ersten Roman. De Winter schreibt Erzählungen, Romane und Drehbücher, die er teilweise schon realisiert hat, so wie ›Der Himmel von Hollywood‹ unter der Regie von Sönke Wortmann. De Winter erhielt 2002 den Welt-Literaturpreis für sein Gesamtwerk und 2006 die  Buber-Rosenzweig-Medaille 

»Leon de Winter hat etwas zu erzählen, und er tut es so gut, daß man nicht genug davon bekommen kann.«Der Tagesspiegel

Roman, detebe 22972, 176 Seiten
Erschienen im Aug. 1997
ISBN978-3-257-22972-1

Der Architekt des Sultans

von Elif Shafak

Die Geschichte ist diese: Jahan, ein 12 jähriger Junge, der aus einem armen Dorf stammt, wird zusammen mit einem weißen Elefanten in Istanbul, in dem Palast des Sultans aufgenommen. Als Mahut des Elefanten, lernt er den großen osmanischen Architekten Sinan kennen und schätzen. Denn dieser macht Jahan zu seinem Schüler und lässt ihn in die Palast-Schule gehen. Er lernt die Prinzessin im Palastgarten kennen und lieben, er erzählt ihr (Lügen)Geschichten. Jahan  erlebt 3 Sultane und die Gepflogenheiten der verschiedenen Herrscher kennen. Zog mit dem Elefanten in den Krieg und reiste mit einem Freund, auf Wunsch des Architekten, nach Italien, um Michel Angelo zu treffen….

“… Jahan erkannte schnell, dass es einfacher war, eine Brücke einzureißen, als eine zu bauen.”

Elif Shafak schreibt einen wunderbaren Roman, der wie ein Märchen aus Tausend und eine Nacht anmutet.. Sicherlich steckt da ein wenig Historisches dahinter, aber noch mehr hat sie daraus einen Roman mit Hintergrund gewoben. Ich mag es, wie sie uns die Entwicklung Jahans nahe bringt. Anfangs, noch der blauäugige Junge, der immer erwachsener wird. Der das Glück hat, bei einem Meister wie Sinan zu lernen. Der ihn beschützt und fördert. Liebevoll geschrieben, entführt Elif Shafak uns in das antike Istanbul, zeigt uns Plätze von denen wir gehört haben, und die uns faszinieren. Sinan, der Architekt des Sultan, hat einige eindrucksvolle Bauwerke in Istanbul und Umgebung geschaffen. Immer hinterlässt er an versteckten und doch offensichtlichen Stellen einen Makel in den Gebäuden, “denn nur Gott ist vollkommen”.

“…Wie schnell sich die Dinge ändern und wie tief und aus welcher Höhe Menschen fallen konnten, selbst solche, die er für unantastbar hielt! Aber vielleicht ja gerade diese. Als gäbe es zwei unsichtbare Bögen – mit unseren Taten und Worten stiegen wir auf, und mit unseren Taten und Worten ging es wieder nach unten.”

Das Buch hat die handliche Größe eines Taschenbuches. Auf den letzten Seiten findet man ein kleines Verzeichnis türkischer Wörter und deren Übersetzungen. In dem Roman, sieht man immer wieder kursiv geschriebene Wörter, wenn diese nicht noch auf der selben Seite erklärt werden, dann muss man nur in die letzten Seiten schauen. Sinan der Architekt war mir bisher kein Begriff. Inzwischen, dank dieses Buches habe ich einiges dazu gelernt.

“Du bist eine liebenswürdige, aber verwirrte Seele. Du bist wie ein Boot mit zwei Ruderern, die in entgegengesetzte Richtungen rudern. Du hast die Mitte deines Herzens noch nicht gefunden.”

Elif Shafak, (Şafak – türkisch „Morgenröte“) ist der Vorname ihrer Mutter. Als Diplomatenkind wuchs sie in Madrid und Ammam auf, hat studiert und ist heute eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei. Ich habe von ihr “Die vierzig Geheimnisse der Liebe” gelesen und war von diesem Buch schon sehr angetan. Der Architekt des Sultan, lässt in der Roman einige lose Enden übrig, was der Gesamtgeschichte aber keinen Abbruch tut. In sich ist die Geschichte schlüssig und die vielen Nebenereignisse, würden nur verwirren. Dieses Buch zählt nun zu meinen liebsten Büchern!
Danke an den Kein & Aber Verlag für dieses Buch, es war mir eine Freude es zu lesen.
Original: The Architect’s Apprentice
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Hardcover
Format: 11,6 x 18,5 cm, 656 Seiten
ISBN: 978-3-0369-5715-9
Mein Buch des Monats! Mehr Bücher bei Nicole

Jahre wie diese

von Sadie Jones

Luke lebt in einer englischen Kleinstadt, ist der Sohn einer Französin, die seitdem ihr Sohn 5 Jahre alt war, in einer Anstalt untergebracht ist. Luke´s Vater, ein Säufer, der vom Sohn versorgt wird, kümmert sich weder um die Mutter noch das Kind. Der Junge besucht seine Mutter, so oft er kann und wächst mit der Anstalt und dem Wissen, dass seine Mutter sich nie richtig um ihn kümmern kann zu einem selbständigen und intelligenten Mann heran. Er trifft an einem Abend auf Paul und Leigh, die für ihn der Funke sind, um nach London zu gehen. Die drei jungen Leute gründen ein Theater und versuchen sich einen Namen in der aufstrebenden Theaterwelt zu machen. Ihr ganzes Leben dreht sich um das Theater. Luke sieht dann seine große Liebe Nina und alles wird anders…
Wer jetzt eine Liebesgeschichte erwartet, der irrt. Sadie Jones schreibt hier einen ganz wunderbaren Roman über die Freundschaft von drei jungen Engländern der 1970er Jahre, die von der Liebe zerstört wird. Jones verzaubert mit ihren Figuren und bringt sie uns sehr nahe, man spürt sie förmlich. Die Autorin hat eine ganz eigene Art zu schreiben. Sie schafft es eine Theaterwelt zu zeichnen, die selbst Laien mitreißt. Hinter die schweren roten Vorhänge zu blicken, macht in diesem Buch unglaublichen Spaß. Die Liebe und Freundschaft zwischen den Freunden und den Nebenfiguren sind so klar beschrieben, Liebesszenen werden so leicht umschrieben, dass sie ein Kopfkino produzieren, ohne deutlich zu werden. Die kurzen und für mich rhythmischen Sätze bestechen, lassen uns in der Geschichte mitwirken. Dieses Buch ist vielschichtig zu lesen. Ich werde es bestimmt ein weiteres Mal lesen, obwohl ich das Ende schon kenne, auf das man am Anfang nicht unbedingt kommt. Für mich war dieses Buch wie Schokolade, ich konnte es nicht aufhören zu lesen und wusste doch, dass es bald alle sein wird…

Ein Zitat Seite 107: “ Da waren sie wieder, die gewohnte, schmerzliche Freude des Suchens und der Mangel; die Distanz zu dem, was Liebe hieß, die ihn geformt hatte. Die Prägung, die dafür gesorgt hatte, dass sein Herz verkümmerte.”

Wieviel Liebe und Zuneigung wir bekommen, dass bestimmt die Welt um uns herum. Was wir auch anstellen, am Ende sind es die Anderen, die uns die Zuneigung geben. Und was die uns angebotene Liebe und Zuneigung aus uns macht, werden wir nur unter größter Mühe wieder  verändern können.

Zitat Seite 378: “ …Er war mit dem lächerlichen Schwert der Liebe zu ihr gekommen; ein heiliger Georg, der den Drachen metzelte und die Jungfrau rettete, aber er hatte versagt. Er hatte sich selbst und alles was er liebte, aus Dummheit an die Illusion der Rettung verloren. Die Vision hatte sich aufgelöst. Nichts war geblieben, sie war nicht diese Jungfrau. Er nicht dieser Heilige. Sie wollte nicht gerettet werden.”



ISBN 978-3-421-04629-1

Deutsche Verlags-Anstalt
412 Seiten

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Sadie Jones, 1967 in London geboren, arbeitete als Drehbuchautorin, unter anderem für die BBC. 2005 verfilmte John Irvin ihr Drehbuch „The Fine Art of Love“ mit Jacqueline Bisset in der Hauptrolle. Ihr preisgekröntes Romandebüt „Der Außenseiter“ (2008) wurde in Großbritannien auf Anhieb ein Nr.-1-Bestseller und war auch in Deutschland ein großer Presse- und Publikumserfolg. 2012 erschien bei der DVA „Der ungeladene Gast“. „Jahre wie diese“ ist ihr vierter Roman.

Danke an den Verlag, das ich dieses schöne Buch lesen durfte!

Dieses Buch möchte ich als mein Buch des Monats bei Nicole einstellen

Madam Picasso

von Anne Girard

Picasso war ein außergewöhnlicher Maler und Mensch. Er war bekannt für seine experimentelle Kunst und seinem Verschleiß an Frauen. Dieses Buch ist ein kleines Fenster in das Paris 1911 – 1915. Eva Gouel war seine zweite große Liebe. Seine Muse, die ihn in seiner kubistischen Zeit, inspiriert hat. Die ihn zu „mehr“ angetrieben hat. Sie kam aus einer Pariser Vorstadt, war wunderschön und wollte ein selbständiges Leben. Als Näherin im Moulin Rouge lief sie Picasso über den Weg und fühlte sich von ihm sofort angezogen. Und er von der zarten, kleinen und doch selbstbewussten jungen Frau. Es entwickelte sich eine komplizierte Liebesgeschichte, die uns in eine Welt der Künstler mitnimmt.

Die Sprache des Romans, ist einfach und völlig leicht zu lesen. Ein Buch für zwischendurch. Es erfordert keine große Aufmerksamkeiten. Die beiden Hauptcharaktere wechseln sich Anfangs mir Ihren Erzählungen ab und man liest viel über die damalige Künstlerszene. Henry Matisse, George Braque, Guillaume Apollinaire…, sind nur ein paar der Erwähnten. Ein Einblick ins Moulin Rouge und vor allem auch hinter die Bühne wird uns gewährt. Die damaligen Tänzerinnen, Sängerinnen und Künstlerinnen lassen aber viele Fragen offen. Schade das man zu den meisten kein Bild hat und erst das Internet bemühen muss, um sich von der Schönheit dieser Frauen zu überzeugen.
Wer keinen Bezug zu Paris hat, kann in der vorderen Innenseite des Umschlags eine alte Karte von Paris finden. Am Ende des Buches erklärt uns die Autorin das sie eine fiktive Geschichte mit einigen Anlehnungen an das Leben Picassos geschrieben hat. Da nicht viel von Eva Gouel überliefert ist, musste sie sich einiges ausdenken, um eine schöne Geschichte zusammen zu reimen.

Auf den letzten Seiten sind einige Fragen zu diesem Buch formuliert. Vielleicht, das man sich etwas mehr mit der Zeit, dem Leben und Schaffen Picassos auseinander setzt. Die Fragen sind gut formuliert. Schön wäre es allerdings, wenn man schon auf den vorderen Seiten darauf hingewiesen würde. Auch fände ich es schön, wenn man in dem Buch WebHinweise finden könnte, um sich die Bilder Picassos vor Augen zu führen. Stets Wikipedia zu bemühen, um Informationen zu erhalten, ist wirklich müßig und bremst im lesefluß ungemein ein. Wieviel einfacher wäre es einen Hinweis über die entsprechenden Persönlichkeiten zu finden!
Alles in Allem fand ich dieses Buch unterhaltend. Als Liebesgeschichte geht es gut durch. Hat in meinen Augen aber nicht die erwartete Tiefe. Schade eigentlich, da Picassos Leben sicherlich sehr viel mehr zu bieten hatte.

Der Einband ist ganz hübsch gemacht. Das Bild verspricht eine Leichtigkeit, zeigt ein die Mode Anfang 1900. Das Name Picasso ist in knallroten Buchstaben geschrieben, was mich sofort angespochen hat. Das Cover der amerikanischen Ausgabe gefällt mir allerdings besser. Das ist in blau gehalten und eine Frauenskizze in schwarz ziert den Einband.

ISBN 978-3-7466-3138-7
Aufbau Verlag
478 Seiten

Wenn ich jetzt jemandes Interesse an Pablo Picasso geweckt haben sollte, dann Klickt HIER
Wer mehr über Eva Gouel wissen möchte, dann HIER entlang oder HIER

Und wer dieses Buch gewinnen möchte der schreibt ein deutliche HIER in seinen Kommentar.
Sollten sich mehr als einer melden, dann entscheidet das Los.
(Das Buch ist gelesen, sieht man ihm zwar an …)
Teilnehmen kann jeder der über 18 ist und in Deutschland wohnt.
Anonyme Kommentatoren hinterlassen bitte eine Email Adresse
Ostersonntag wird sich dann entscheiden, wohin das Buch reisen wird.

Alles was ich bin

von Anna Funder

Am 1. April 1935 wurde zwei tote Frauen in einer Londoner Wohnung aufgefunden. Laut eines Gerichtsurteils, war es ein gemeinsamer Suizid. Wie es wirklich dazu kam, erzählt Ruth Blatt. Sie ist die Cousine von Dora Fabian, einer der Toten. Die andere Frau, die aufgefunden wurde, war Mathilde Wurm. Beide Frauen waren bekannte Sozialdemokratinnen, Journalistinnen und Frauenrechtlerinnen. London war ihr Exil, als sie 1933 vor den Machenschaften der SS und Hitlers Handlangern flohen. Von London aus, schrieben die Frauen weiterhin für die Zeitungen und versuchten den Deutschen die Augen zu öffnen.

„Es gab immer wieder Punkte, an denen wir entscheiden mussten, ob die Gefahr in der jemand schwebte, durch die Arbeit für unsere Sache gerechtfertigt wurde. Wir wurden verantwortlich für das Risiko, dass wir einander zumuteten. Das sollte man auch als Syndrom benennen.“

Der Schriftsteller und Dramatiker Ernst Toller, schrieb kritische Stücke für das Theater (Masse Mensch…) ging auch ins Exil. Eng vertraut mit den Frauen, trafen sie sich in London wieder. Er warnte schon in den 1920er vor einer faschistischen Bewegung in Deutschland. Seine Bücher standen auf der Liste und wurden 1933 verbrannt. Dora Fabian war Ernst Tollers Sekretärin und Freundin (Geliebte).
Aus diesen Tatsachen schrieb Anna Funder einen Roman. 
Anna Funder war 19, Studentin in Melbourne, als sie auf die 79 jährige Ruth Blatt traf. Trotz des großen Altersunterschiedes wurden die Frauen Freundinnen. Ruth erzählte Anna einen Teil ihres aufständischen Lebens. Einen spannenden Teil… Sie erzählte ihre Erlebnisse aus der Zeit, als Hitler an die Macht kam und als Jüdin aus gutem Haus, im Berlin Ende der 1920er Jahre lebte.
Ruth erzählt ihre Erinnerungen. Sie ist Dement und vieles verschwindet in ihrem Kopf. Aber manchmal kommt plötzlich die Erinnerung.

Stolperstein in der Genthiner Straße in Berlin

 “Mein Geist ist ein flatterhaftes Ding; befragt man ihn zu direkt, öffnet er sich nicht. Ich muss schlauer sein, mich am Rand des Schlafs heranschleichen, damit er was Neues herausgibt. Schließlich gehört alles darin mir.”

Ernst Tollers Gedanken sind ein Teil der Geschichte. Der politische Moralist war der körperlich kleinen, aufständischen Dora verfallen. Immer wieder erinnert ihn seine derzeitige Sekretärin an Dora. Depressive Schübe lassen ihn schwarze Schatten sehen, er hat Angst auf die Straße zu gehen. Die Sekretärin kümmert sich um den psychisch stark angeschlagenen Mann, während sie seine Autobiografie diktiert bekommt. 
Frau Funder lässt abwechselnd Ruth und Ernst Toller von ihrem Leben berichten. Das lässt uns die Möglichkeit die Geschichte von verschiedenen Perspektiven zu sehen. Ruth in ihrer Demenz ist mal im Jetzt, gleitet aber immer wieder mit ihren Gedanken in die alten Zeiten zurück. Anna Funder hat viel recherchiert und für die Lücken noch ein wenig dazu gedichtet. Aber im Großen und Ganzen, ist ihr Roman eher ein Tatsachenbericht, der sich aber, auch wenn man sich nicht für Geschichte interessiert, wunderbar lesen lässt. Am Ende des Romans findet man eine Zusammenfassung all ihrer gelesenen und verwendeten Bücher und Artikel zu diesem Thema.
Viele Male hat man schon Literatur über die Nazizeit gelesen, oftmals ging es um die Judenverfolgung. Auch hier ist es ein Thema, aber die Verfolgung erdrückt die Geschichte nicht. Sie ist ein Teil, genauso wie die Verfolgung der Sozialdemokraten und den Menschen die Kritik übten. Ein wirklich spannendes Buch und sehr zu empfehlen.

Roman
432 Seiten, gebunden
S. FISCHER
ISBN 978-3-10-021511-6

Ein spannender Artikel vom Deutschlandradio
Mutige Frauen gegen Hitler