Schmale Pfade

Alice Greenway zeigt uns in ihrem Roman einen Mann der griesgrämiger nicht sein könnte. Jeder der Jim zu Nahe kommt, wird von ihm “verbissen” und angeknurrt. Nur wenige Menschen haben etwas Zugang zu dem ehemaligen Ornithologen und Soldaten. Er hat sich in Maine, in seinem alten Sommerhaus aus Kindertagen, einen Rückzugsort geschaffen. Abgeschnitten von allem, versorgt durch einen alten Freund und dessen Tochter. Jim macht seinen Sohn Fergus dafür verantwortlich, dass ihm das halbe Bein abgenommen wurde und ertränkt seine Gedanken und Erinnerungen mit Gin und Whisky. Aber es ist nicht nur der Ärger über das Bein, das den belesenen Mann so wütend macht. Die Erinnerungen aus Kindertagen (1917) und dem Pazifik Krieg 1943 machen dem Alten zu schaffen, als eine junge Frau 1973 bei ihm einzieht. Cadillac ist die Tochter eines hawaiianischen Freundes aus Kriegstagen, hat ein Stipendium für die Yale University erhalten, möchte Ärztin werden und soll sich bei Jim an Amerika gewöhnen. Sie wirkt auf Jim, mit ihrer natürlichen und leichten Art, wie ein Schlüssel zu seinen verschlossenen Erinnerungen und beginnt den alten Knurrhahn auf zu weichen…

Seite 221: …”Er erinnert sich, warum er nicht wollte, dass das Mädchen kommt. Das Letzte, was er brauchen kann, sind die ungebetenen, wiederauferstandenen Geister der Vergangenheit. Es ist schon schwer genug mit der beschissenen Gegenwart klarzukommen”…
Die einzelnen Charaktere in diesem Buch lassen uns an ihren Gedanken teilhaben und zeigen damit die verschiedenen Ansichten des Geschehenen. Alice Greenway hat einen ruhigen, fließenden Roman über grausige Zeiten geschrieben. Sie springt leicht und überschaubar zwischen den Jahren und den Erinnerungen der Figuren hin und her. Beleuchtet die Situationen, in denen Jim sich befand (und befindet) aus vielen Blickwinkeln, so dass man Verständnis für den knurrigen Alten bekommt. Cadillac ist dabei eine ganz wichtige und wunderbare Figur, die immer wieder dafür sorgt, dass Jim sich immer weiter öffnet und die Geschichte klarer wird. Jim war Ornithologe und hat sich sein Leben lang mit den gefiederten Gesellen beschäftigt. Alice Greenway beschreibt die verschiedenen Vogelarten und wie sie gefangen und ausgestopft werden, damit lockert sie die schwere Kost des Krieges auf, lenkt den Blick auf eine friedliche, farbenfrohe und bizarre Welt.

Seite 328: …“Jim war, als würde ihm ein Blick in die verworrene, verwundete Landschaft seiner eigenen Seele gestattet”…
“Schmale Pfade” ist der zweite Roman von Alice Greenway, aufgewachsen in Hongkong, Bangkok, Washington, Jerusalem und Masachusetts, studierte an der Yale University. “Weiße Geister” war schon ein großer Erfolg und steht auf meiner Liste für Bücher, die ich unbedingt noch lesen muss.
Klaus Modik hat diesen Roman übersetzt und dabei bestimmt eine gute Arbeit geleistet. Der Schriftsteller und Übersetzter hat selber einen tollen Roman heraus gebracht “Konzert ohne Dichter”. Auch der steht auf meiner Liste.

Verlag : Mare Verlag
ISBN: 9783866482326
Fester Einband 368 Seiten

meine amerikanische freundin

ein Roman von
Michèle Halberstadt

Die besten Freundinnen der Welt. Nur nicht auf dem selben Kontinent. Sie erzählen sich alles, lachen zusammen, genießen ihr Leben. Sie treffen sich in Paris, in New York, auf der ganzen Welt. Sie haben so viel Gemeinsames…
Plötzlich kommt ein Anruf, die amerikanische Freundin liegt im Koma. Ist einfach umgefallen und musste operiert werden. Als sie endlich wieder aus dem Koma erwacht, ist vieles anders, schwieriger und verändert. Die amerikanische Freundin braucht Hilfe, bei allem und hat ihren Biss verloren. Die französische Freundin, schreibt sich ihre Gedanken von der Seele…

Der Roman ist wie ein Tagebuch aufgebaut. Ohne Daten, es ist aber klar, dass die Zeit verrinnt. Die Französin liebt ihre amerikanische Freundin, mit all ihren Fehlern, die sie so liebenswert machen. Sie vermisst sie sehr, und so hat sie begonnen, ihre Gedanken in den Rechner zu tippen. Der Text steckt voller Erinnerungen an die Freundin und beschreibt die Amerikanerin als besonderen Menschen. Die Französin hat zusätzlich eigene Baustellen, die sie im Normalfall mit der besten Freundin aus Amerika besprochen hätte. Nun will sie, sie aber nicht damit belasten. Die Pariserin vermisst die “alte” Freundin. Nimmt aber auch die “Neue” an, versucht das Beste daraus zu machen.

Wie lieb hat man einen Menschen, geht man mit ihm wirklich durch dick und dünn? Der Roman greift nach den eigenen Gefühlen, regt an, mal über seine eigene Psyche und Beziehungen nach zu denken. Was ich schön fand ist, dass er nicht zu Tränen rührt. Ich fand ihn nachdenklich, wirklichkeitsnah. Es sind nicht viele Seiten und es liest sich unglaublich schnell. 152 Seiten Nachdenklichkeit. Ich kann es nur empfehlen.

Ullsteinverlag
Taschenbuch
160 Seiten
Mon amie américaine
Aus dem Französischen übersetzt von Corinna Rodewald.
ISBN-13 9783548287850

Wer ist Mr Satoshi

Jonathan Lee, ist ein Schriftsteller der mit Worten jongliert. Mit Worten seine Bilder so nahe bringt,

umschreibt, umschmeichelt. Wortkombinationen gebraucht, die ich so noch nie gelesen habe. Er ist 1981 in Surrey geboren, studierte englische Literatur, lebte in Südamerika und arbeitete in in einer Anwaltskanzlei in London. “Wer ist Mr. Satoshi” schrieb er, nachdem er aus Tokio, wohin er versetzt wurde, wieder in England war. In New York ist sein neues zu Hause…

Seine Texte werden in namhaften Zeitschriften abgedruckt und sein neuster Roman wird inzwischen schon verfilmt. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, wie man die Sätze, die dieser Autor zu Papier bringt, passend verfilmen kann. 
In „Wer ist Mr Satoshi“, erlebt Jonathan Lees Hauptdarsteller, Robert Fossick, wie seine Mutter auf der Terrasse des Altenheim, wo sie wegen ihrer Demenz von Robert untergebracht wurde, verstirbt. Unfähig sich zu rühren, beobachtet er den Sturz und später die Aktionen der Sanitäter. Kurz bevor die Mutter die Terrasse betreten hatte, hielt sie ihrem Sohn ein Paket entgegen und erklärte Robert, dass dieses für einen gewissen Mr Satoshi sei. Robert hat seit einem tragischen Unfall seiner Frau ausgeprägte Panikattacken und kann seinem Beruf als Fotograf nicht mehr nachgehen. Er verbringt die meiste Zeit in seiner Wohnung, lebt beziehungsweise überlebt nur mit Hilfe von Tabletten. Nun ist er gezwungen sich mit dem Paket auf die Suche nach Mr Satoshi zu machen, da auch noch sein Agent darauf drängt, mal wieder Bilder seines Schützling zu veröffentlichen. Ausgerechnet nach Tokio, in eine der quirligsten Städte, wird er reisen und durch eine junge Japanerin die Welt neu entdecken. 
Wie gesagt, Lee schreibt in einem unglaublichen Stil. Die Umschreibungen, die er benutzt, sind so bildhaft, so wunderbar. Die Sätze faszinieren und machen unglaublichen Spaß zu lesen. Jung, frech, überdeutlich, lesen wir die Gedanken des Hauptdarstellers und sind mit ihm in seinen Drogenträumen und in seinen Panikattacken unterwegs. Lee sieht die Welt mit einem besonderen Blick, lässt uns mit seiner bildhaften Sprache teilhaben. Die Beobachtungen des Protagonisten bringen uns die Demenz der Mutter näher. Woher die Ängste, die Robert hat stammen, wird auch im Laufe der Geschichte erklärt. Auf eine Art, die Lee in meinen Augen, als besonderen Schriftsteller auszeichnet.

Ein Absatz von Seite 104:

“Kein Buch oder Film hatte mich auf das millionenfarbige Adernetz der Stadt vorbereitet. Seine Lichter gleißten unglaublich hell, dimmten sich nur herunter, wenn das Taxi in einen Tunnel gesaugt wurde. Wenn wir dann Sekunden später wieder auftauchten, fühlte ich mich wie ein soeben ausgetriebenes Neugeborenes, unfähig, die Welt außerhalb des Mutterleibs aufzunehmen. Fluoreszenz ergoss sich von Straßenschildern mit fremdartigen Aufschriften, füllte Ladeneingänge und sickerte in enge Seitengassen.”

Das wird bestimmt nicht das letzte Buch sein, das ich von Jonathan Lee lesen werde. Einige haben ihn auch mit Haruki Murakami gleichgestellt. Seine Bücher hochgelobt.

Paperback, Klappenbroschur,
320 Seiten
ISBN: 978-3-442-75386-4
Verlag: btb

Die Königin der Orchardstreet

(wer mehr über S.Gilman wissen möchte, klickt auf ihren Namen) 

Träumt nicht fast jedes Kind von einem Leben in einer Eisfabrik? Schwärmt nicht jedes kleine Schleckermaul von besonderen Eissorten?  Wie muss es denn dann wohl sein, eine berühmte Eisproduzentin zu sein?
Sie stammt aus Russland, kam 1913 mit ihrer Familie nach Amerika. Ihre Eltern sind, wie viele Einwanderer, völlig mittellos und hoffen auf das große Glück.
Malka ist 6 oder 7 Jahre alt, hat eine ziemlich große Klappe und lässt sich nicht so leicht beeindrucken, sie ist erfindungsreich und sehr fantasievoll.
Und das bis ins hohe Alter. Sie erzählt ihre Lebensgeschichte in manchmal schnoddriger Art. Vorlaut und neunmalklug,das sagt sie auch immer wieder selber von sich selbst, »verklagt mich doch! «



» hat man erstmal ein gewisses Alter erreicht, oh, da hält einen alle Welt für dumm, taub und unwichtig. Andere Frauen meines Alters, das sage ich euch, meine Schätzchen, die gäben  hervorragender Spioninnen ab. Die könnten in der Sowjetunion ein und aus gehen, ohne dass einer genauer hinsieht.Aber ich nicht. Dafür sorge ich.«


Malka kommt sozusagen unter die Räder, sie läuft in einen Pferdekarren. Das Pferd bricht ihr das Bein ,das Becken und ein paar Rippen. Und das gleich mehrfach. Sie wird immer behindert bleiben. Aber Malka hat Glück und wird von dem italienischen Eisverkäufer, der sie angefahren hat, aufgenommen. Sie wächst bei den Italienern auf, bekommt eine Ausbildung und verliert ihre eigene Familie.



So schildert sie ihr Leben, als würde man mit ihr und einer Tasse Tee, in ihrer riesigen Villa sitzen. Sie springt immer wieder in die Gegenwart, verliert aber nicht den Faden und erzählt chronologisch ein arbeitsreiches Älterwerden.
Anfangs dachte ich mir noch, was ist das wohl für eine nervende Person, der ich jetzt meine Zeit opfere, doch mit jeder Seite zog sie mich weiter in ihren Bann. Die alte Dame kommt mir sehr freudlos, berechnend und böse vor. Sie hat stets den Überblick. Hat immer ein Quäntchen Glück. Aus vermeintlich negativen Situationen entwickeln sich lukrative Geschäfte. Als Frau in dieser Zeit, hatte man wenig zu sagen, als Krüppel (wie sie sich selbst bezeichnet), noch viel  weniger. Man wurde einfach übersehen. Trotzdem wurde sie die größte Eisproduzentin Amerikas!

» Auf den Straßen von Lower Manhattan erhielt ich meine erste große Marketing-Ausbildung: sei schamlos. Sei anders. Und appelliere an die Gefühle – nie an den Kopf.«



Es ist eine unterhaltsame Geschichte, die sich schnell liest. Unterteilt in 3 große Kapitel durchleben wir mit der toughen alten Dame knapp 90 Jahre. Ein stetes Auf und Ab macht das Buch spannend. Mit den richtigen Schauspielern… ,ein Kassenschlager.
Die verschiedenen eisigen Geschmacksrichtungen, die sie in ihrem Buch erwähnt, lassen einem das Wasser im Mund zusammen laufen. Nur gut, das mein Lieblingseisladen, ein paar Straßen weiter ist.

Gebunden, 600 Seiten
ISBN: 978-3-458-17625-1 
Auch als  eBook erhältlich

Dieses Buch möchte ich bei Nicole mitmachen lassen. Es gehört zu meinem Buch des Monats März. 

Der Distelfink

Theo und seine Mutter sind in einem New Yorker Museum für Kunst, als eine Bombe explodiert. Auf dem Weg nach draußen “findet” der traumatisierte Junge das Bild von Carel Fabritius *Der Distelfink* und nimmt es mit. Erst nach einiger Zeit realisiert der Dreizehnjährige, das seine Mutter bei diesem Attentat ums Leben gekommen ist. Theos Vater ist seit einem Jahr nicht auffindbar, somit steht der Junge allein im Leben. Damit beginnt eine Odyssee, die den Jungen auf schiefe Bahnen lenkt. Mit einigen Menschen die einen Anker in seinem Leben darstellen, schafft er sich doch ein angenehmes Leben und lernt stets dazu. Er “überlebt”, indem er sich in die Welt der Drogen flüchtet und trotz allem, zu einem angesehenen Menschen wird. 
Es ist unglaublich, wie sehr mich dieses Buch mitgerissen hat. Auch wenn das Buch zugeklappt auf meinem Nachttisch lag, musste ich oftmals an Theo, den Hauptdarsteller, denken. Das Schicksal dieses jungen Mannes ist so liebevoll,  auch detailreich erzählt , dass man das Gefühl hat, mitten in der Geschichte zu sein. Ich glaubte oft, in den Kopf des Jungen blicken zu  können, der uns seine Geschichte erzählt. Es wurde mir nicht langweilig, all die vielen Beschreibungen zu lesen. Eher im Gegenteil, es hilft ungemein den Jungen zu verstehen und zu begreifen, aus welchem Blickwinkel er sein Leben und die Menschen sieht, die ihn umgeben. Theo lässt sich so häufig von Freunden und Angehörigen blenden. Läuft den Falschen hinterher und glaubt was man ihm sagt. Manchmal hätte ich ihn gerne angeschrien, endlich die Augen zu öffnen…
Donna Tartt beschreibt das quirlige New York, das trostlose Las Vegas, als wäre man selber dort. Sie nimmt uns mit, in die Werkstatt eines Möbeltischlers. Und bringt es fertig, uns den Duft des Holzes, den Wachs zum polieren, das Terpentin riechen zu lassen. Sie nimmt uns mit, auf die Drogenreisen ihres Hauptdarstellers. Lässt uns mit ihm Liebe finden und zusehen wie sie ihm wieder zwischen den Fingern zerrinnt. Das “gefundene” Gemälde trägt den Jungen, ist der Halt, der dem Kind fehlt.
Zum Ende des Buches wird ihre Geschichte zu einem Thriller, der ziemlich an den Nerven zerrt. Blutig und verrückt, drogenlastig und im Fieberwahn.
Allerdings verheddert sie sich, ganz am Ende, für meinen Geschmack, zu sehr in ihren Beschreibungen und zieht es zu sehr in die Länge.

Der Einband des Buches zeigt einen Teil von dem Bild *Der Distelfink* von Carel Fabritius aus dem Jahr 1654. Als wäre ein Stück des Umschlags aufgerissen und das Bild leuchtet darunter hervor. Wenn man über den Einband streicht fühlt man das aufgerissene Papier. 
Ein Lieblingssatz: Seite 129

„Aber manchmal, ganz unerwartet, brandete der Schmerz in Wellen über mich hinweg, die mir den Atem verschlugen, und wenn sie zurückwichen, schaute ich unversehens hinaus auf ein salzfeuchtes Wrack, beleuchtet von einem Licht so hell, so herzversehrt und leer, dass es schwerfiel, mich daran zu erinnern, dass die Welt jemals etwas anderes als tot gewesen war.“

Goldmann Verlag 
1024 Seiten, gebunden

Dieses Buch möchte ich euch ganz besonders ans Herz legen. Weshalb ich es auch bei Nicole als Buch des Monats März verlinke.